für Akkordion & Klavier – 2019/2023

UA: 30. Nov. 2019, Festival Rainy days, Anne-Maria Hoelscher (Akk.), Florian Hoelscher (Piano)

I.- Quand le psittirostre zinzinule (2019, ca. 9′)
II.- Novembre (in memoriam Jean-Claude Risset & Corinna L.) (ca. 6′)
III.- We are all accountable for what we create, but also for what we destroy (ca. 6′)

(Aufnahme des ersten und zweiten Satzes, Festival Rainy Days, 30 Nov. 2019)

Programmtext :

Chroniques déchantées (2019/2023), für Akkordeon und Klavier ist eine „Krisenkomposition“. Aber wer könnte sich derzeit nicht in einer Krise befinden, da die universalistischen Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Solidarität unter den Menschen ständig und immer mehr in Frage gestellt werden? Diese Verleugnung menschlichen Lebens aus einer „Identitäts“-, „Widerstand“- oder „Rache“- Ideologie? Und vor allem die Klimakrise, die die Zukunft aller Lebewesen auf der Erde durch das unverantwortliche und noch immer nicht ausreichend behobene Vorgehen der Menschen bedroht?

Was mich seit über dreißig Jahren als Komponist auf rein musikalischer Ebene interessiert, ist die Entwicklung von Musiksprachen, die das kognitive Hören in die Irre führen, d.h. neue Techniken der Mehrdeutigkeit und Wahrnehmungsparadoxien, wie z.B. in diesem Werk pulsierende Rhythmen in komplexen Polymetrien, die Schaffung und der Austausch von nicht erkennbaren Klängen zwischen den beiden Instrumenten, oder Paradoxskalen. Diese Techniken stehen jedoch im Dienste eines eher heteronomen Ausdrucks, der in Resonanz mit den a-musikalische Themen steht, die mich beschäftigen.

Der Titel hier hat, wie viele meiner Titel, eine mehrfache Bedeutung. Déchanté bedeutet auf Französisch sowohl “ entzaubert “ als auch „nicht mehr gesungen“. Wie dieses Psittirostrum, das verschwunden ist und nicht mehr zinuliert (1. Satz). Der zweite Satz, Novembre, ein Monat kurz vor dem Ende, ist dem Gedenken an Jean-Claude Risset und Corinna L. gewidmet, die beide am selben Tag, am 21. November 2016, gestorben sind, Corinna bei einem dramatischen Unfall. Sehr minimalistisch, auf seltsamen absteigenden nicht-oktavierenden Skalen basierend, ist es eine Trauerode an diese beiden Menschen, die mir sehr am Herzen lagen. Diese beiden Sätze wurden 2019 beim Festival Rainy Days in Luxemburg uraufgeführt.

Wie viele andere brauchte auch ich Zeit, um zu verstehen, was die allgemeinen Prinzipien der Lebensführung angesichts der Klimakrise sein sollten, jenseits von eher lokalen Maßnahmen (z. B. drastische Reduzierung von Flugreisen oder Fleischkonsum) und vielen Widersprüchen. Der dritte Satz „We are all accoutable for what we create, but also for what we destroy“, der beim Frakzionen-Festival in Bielefeld uraufgeführt wird, ist ein musikalischer Spiegel dessen, mit konsequentem musikalischem Material, das diese ethische Buchhaltung reflektiert.