für Saxophonquartett- 2012, ca. 11’
Ricordi Verlag, score in sell: Sy. 4226

in memoriam Julien Copeaux (1975-2003)

UA: 27. April 2013, Wittener Kammermusik Festival, Witten, Germany ; Saxophonquartet Xasax

Programmtext:
Wenn ich zurückblicke auf mein erstes Saxophonquartett Durch, in memoriam Gérard Grisey, komponiert vor nunmehr 15 Jahren, wird mir die Entwicklung bewusst, die ich seitdem als Komponist durchlaufen habe, aber ich sehe auch eine Konstante, die sich über all diese Jahre hinweg gehalten hat: den Versuch nämlich, eine „kognitive Musik“ zu schreiben, d.h. eine Musik, die nicht einfach als Signal vom Ohr, sondern als eine Folge „kognitiver Schemata“ (im Sinne Jean Piagets) vom Gehirn wahrgenommen wird. In der Praxis bedeutet dies, mit Erwartungen zu spielen, mit Überraschungen, Analogien, Ambiguitäten und anderen Doppel-Wahrnehmungen sprachlicher Elemente.

Die grossen Werke der tonalen Musik und die Musik anderer Kulturen können uns dabei als Modell dienen: Die je zugrundeliegenden Sprachen sind nicht deshalb kognitiv effizient, weil sie funktional wären, sondern weil sie wunderbar mit Analogien, Ambiguitäten und anderen Doppel-Wahrnehmungen spielen: von der Nähe zwischen Dur und Moll aus den Anfängen der Tonalität bis zu den Ambivalenzen zwischen Kontrapunkt und Harmonie bei Wagner, von den übermäßigen und anderen neapolitanischen Sexten bei der klassischen Komponisten bis zu den harmonischen Ausweichungen bei Schumann, die die Grundtonart oft schon am Anfang des Stückes verschleiern: Man könnte die gesamte Musikgeschichte aus dieser Perspektive des kognitiven Doppelspiels neu lesen.

Für den Komponisten bedeutet dies, dass er seine eigenen sprachlichen Artikulationen geduldig finden und konstruiren – und dabei zwei Extreme vermeiden muss: einerseits, die Wahrnehmung mit einer am Reißbrett entworfenen Komplexität zu überfrachten, bei der das Werk für den Hörer unfasslich, kognitiv irreduzibel und schließlich unverständlich wird; andererseits, in Anleihen bei der Funktionalität überlebter Sprachen zu ertrinken, die dabei ihrerseits ihre Aura und die Kraft ihrer Mehrdeutigkeit verlieren. Mit anderen Worten: Mir scheint, als müsse der Komponist es sich zur Aufgabe machen, Risiken einzugehen – einschließlich des Risikos, verstanden zu werden.

Towards the door we never opened hält an dieser nunmehr 15 Jahre alten Obsession fest: eine eigene harmonische und rhythmische Sprache zu konstruieren, mit dem Ziel, ein sprachliches Substrat zu liefern, als Voraussetzung für einen Dialog der Stimmen, für ein subtiles kontrapunktisches Spiel und für Schein-Evidenzen, die die Wahrnehmung auf kognitiver Ebene verunsichern

Das Werk wurde in Erinnerung an den wunderbaren, zu früh verstorbenen Komponisten Julien Copeaux (1975-2003) geschrieben.

(…) What might have been is an abstraction
Remaining a perpetual possibility
Only in a world of speculation.
What might have been and what has been
Point to one end, which is always present.
Footfalls echo in the memory
Down the passage which we did not take
Towards the door we never opened
Into the rose-garden. My words echo
Thus, in your mind.
But to what purpose
Disturbing the dust on a bowl of rose-leaves
I do not know. (…)

T.S. Eliot, Four Quartets